Dreschflegel e. V.
Von den Äckern in die Labore - Tendenzen der letzten 150 Jahre
(Autorin: Anja Banzhaf 2022)
Häufig wird der Beginn der Pflanzenzüchtung in das 19. Jahrhundert datiert. Doch was haben die Bäuer*innen die restlichen 10.000 Jahre gemacht, seitdem sie Acker- und Gemüsebau be-treiben? Pflanzenzüchtung hat nicht erst mit den systematischen Kreuzungen Mendels und schon gar nicht mit Labortechniken begonnen, sondern ist ein Jahrtausende alter Prozess, auf den jegliche Züchtung heute zurückgreift.
Wir wollen der Sicht, Pflanzenzüchtung sei eine Sache studierter Laborexpert*innen, etwas entgegensetzen. In der Praxis tun wir dies auf unseren Äckern mit dem steten Arbeiten an unseren Sorten. Um zu der Debatte auf theoretischer Ebene beizutragen, veröffentlichen wir einen leicht abgeänderten Text aus dem Buch „Saatgut. Wer die Saat hat, hat das Sagen“ (1) zu der Frage, wie sich das Verständnis von und der Blick auf Pflanzenzüchtung innerhalb der letzten 150 Jahre verändert hat. Herzlichen Dank an den oekom verlag für die Genehmigung des Abdruckes!
Intensivierung der Landwirtschaft
„Begann sich [...] im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Pflanzenzüchtung in Deutschland als neue Wissenschaft langsam zu formieren, so ist doch die erhebliche Intensivierung der deutschen Landwirtschaft im letzten Jahrhundert nur zu geringen Teilen eben dieser neuen Wissenschaft zu verdanken“, schreibt Flitner (2). Die zunehmende Mechanisierung, neue Ackergeräte und Anbautechniken und der steigende Einsatz von Pestiziden und mineralischen Düngern trugen erheblich zu den Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft bei. (3)
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ein industrielles Verfahren entwickelt, das Luftstickstoff in nutzbare Stickstoffverbindungen umwandelt. Ab nun standen diese Stickstoffverbindungen in riesigen Mengen zur Verfügung und wurden für die großindustrielle Herstellung von Sprengstoff und Düngemitteln genutzt. Die Verfügbarkeit mineralischer Stickstoffdünger machte enorme Ertragssteigerungen möglich. Ohne sie wäre die industrielle Landwirtschaft in heutiger Form nicht denkbar: 75% des heute weltweit genutzten mineralischen Düngers ist Stickstoff. (4)
Ziele der Züchtung
Seit der großflächige Einsatz von mineralischen Düngern möglich ist, konzentriert sich die Pflanzenzüchtung auf Sorten, die große Mengen dieser Düngemittel aufnehmen und effizient in hohe Erträge umwandeln können. In der Literatur werden diese Sorten oft ‚Hochertragssorten‘ genannt. Viele dieser Sorten zeigen jedoch vor allem eine hohe Reaktionsfähigkeit auf Düngemittel und weisen bei niedrigem Düngeniveau niedrige Erträge auf. Daher verwende ich in Anlehnung an Shiva (5) den Begriff ‚Hochreaktionssorten‘.
Auch die Züchtung von Resistenzen gegenüber Schädlingen und Krankheiten spielte in den vergangenen Jahrzehnten eine sehr große Rolle, immer im Wettlauf mit den resistenzbrechenden Schädlingspopulationen. Zudem wurde bei einigen Arten, wie Raps, Zuckerrübe, Weizen und Kartoffel, die Eignung zur industriellen Verarbeitung zum wichtigsten Züchtungsziel. Beispielsweise werden etwa die Hälfte der Kartoffeln in Deutschland nicht frisch, sondern als industriell hergestellte Chips, Pommes oder Knödel gegessen. (6) Bei vielen Arten ist im industriellen Agrarsystem auch wichtig, dass sie sich für weite Transportwege eignen.
Die genannten Kriterien sollen in der professionellen Pflanzenzüchtung möglichst gleichförmig in jedem Pflanzenindividuum einer Sorte gesichert sein; dies vereinfacht auch die industrielle Bearbeitung, Ernte und Verarbeitung. (7) Daraus ergibt sich letztlich eines der wichtigsten Züchtungsziele: Die Einheitlichkeit der Sorten. Mit der Globalisierung der landwirtschaftlichen Produktion wurden zudem Sorten forciert, die für große und auch unterschiedliche Anbaugebiete geeignet sind, denn ein großes Anbaugebiet ist für Züchter*innen „natürlich kommerziell interessant“ (8). Je größer das Anbaugebiet, desto mehr verkauft sich das Saatgut von der Sorte. Lokale Anpassung und standortspezifische Sorteneigenschaften sowie Sorten für weniger optimale und marginale Standorte sind ökonomisch uninteressant und geraten zunehmend in den Hintergrund.
Methoden der Züchtung
Auch die Methoden, die in der Pflanzenzüchtung angewendet werden, haben sich in den letzten 150 Jahren drastisch geändert. Nach den ersten systematischen Kreuzungen von Mendel Mitte des 19. und der Hybridzüchtung Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Züchtung zunehmend von den Äckern in die Labore verlagert. Statt auf zufällige Mutationen zu warten, können seit den 1930ern Mutationen auch künstlich durch Bestrahlung oder Chemikalien ausgelöst werden. In den 1970er Jahren entdeckten Züchter*innen, dass verstärkt Mutationen ausgelöst werden, wenn pflanzliches Gewebe in einer Zellkultur (49) wächst. (10) Im selben Zeitraum wurden mittels Gentechnik erstmals einzelne Gene einer Art auf eine andere übertragen.
In vielen Züchtungsprozessen hat heute der Fokus auf Zellkulturen, die in einer Nährlösung in Plastikschalen auf ihre Eigenschaften geprüft werden, den Züchter*innenblick im Zuchtgarten und auf dem Acker abgelöst. Aus einzelnen Zellen werden Pflanzen generiert, die unter kontrollierten Laborbedingungen aufwachsen. Die Züchter*innen achten weniger auf das Äußere einer Pflanze; stattdessen analysieren sie das Erbgut und können so herausfinden, welches die idealen Kreuzungspartner sind.
Es gibt viele Argumente für und gegen die Entwicklungen in der Pflanzenzüchtung und der Biotechnologie, und die Diskussion hierüber ist nicht Gegenstand dieses Buches. Für unsere Frage, wer das Sagen über die Saat hat, fällt die Argumentation relativ einfach aus: Diese Methoden führen dazu, dass Bäuer*innen und Gärtner*innen vom Züchtungsprozess weiter abgetrennt werden und das Sagen über ihre Saat verlieren.
Mit den hochtechnologisierten Züchtungsmethoden hat die Pflanzenzüchtung einen zuvor ungekannten Spezialisierungsgrad erreicht. Insbesondere in den Industrieländern sind die Bereiche Pflanzenbau, Saatgutproduktion und Züchtung klar getrennt. Züchtung ist eine hochkomplexe Wissenschaft geworden, die zunehmend von Spezialist*innen in Laboren durchgeführt wird. Das Wissen über Züchtung und Samengärtnerei wird in den üblichen landwirtschaftlichen und gärtnerischen Ausbildungen in Deutschland nicht einmal mehr gelehrt. Pflanzenzüchtung ist eine wissenschaftliche und technische Disziplin geworden, die im Alltag vieler Bäuer*innen keine Rolle mehr spielt.
Blick der Züchtung
Innerhalb der letzten 150 Jahre veränderte sich auch der züchterische Blick auf die Pflanze. Während zuvor der gesamte Pflanzenbestand oder die Pflanze als Einheit betrachtet wurde, galt das Augenmerk ab nun zunehmend einzelnen Genen und ihren Eigenschaften. Diese Gene heißen ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts ‚genetische Ressourcen‘, die sowohl züchterisch als auch ökonomisch bedeutungsvoll seien und daher ‚gerettet‘ werden müssten. (11)
Die Genetik hat zu großen Züchtungsfortschritten beigetragen. Gleichzeitig jedoch tendiert sie zu einer starken Vereinfachung der komplexen Verhältnisse, Wechselbeziehungen und Prozesse, in die eine Pflanze im bäuerlichen Anbau eingebunden ist. Mit dem reduzierten Blick auf nur bestimmte Eigenschaften missachtet die professionelle Pflanzenzüchtung, dass auch an-dere Nutzungsweisen mit diesen Pflanzen verbunden sein könnten. So wird der Mehrfachnutzen vieler bäuerliche Sorten oft ersetzt durch eine reine Fokussierung auf die Frucht. (12)
Beispielsweise erzählte mir eine Freundin aus Indien, dass in manchen Regionen Indiens das Stroh der Reispflanzen zum Decken von Hausdächern verwendet werde. Die meisten neueren Reissorten hätten den Vorteil, dass sie schneller abreifen und dadurch zwei Mal jährlich Reis angebaut werden könne. Einer der Nachteile jedoch sei, dass das Stroh viel kürzer und durch die hohe Stickstoffdüngung weicher sei. Somit eigne sich das Stroh dieser Sorten nicht zum Decken der Dächer, womit eine der wichtigsten Nutzungen der Reispflanzen wegfiele.
Züchtung wird Privatsache
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts betrieben Genetiker*innen und professionelle Pflanzenzüchter*innen intensive Forschungsarbeit an Universitäten und anderen öffentlichen Forschungsinstitutionen. Inzwischen gibt es solche Institutionen kaum noch, und wenn, sind sie zumeist eng mit dem privaten Sektor verflochten oder mit privaten Drittmitteln finanziert. Im Stiftungsrat der Universität Göttingen beispielsweise saß bis Mitte 2015 der Aufsichtsratsvorsitzende der KWS, einem der weltgrößten Saatgutkonzerne.
Kostspielige und aufwendige Grundlagenforschung wird heute noch immer an Universitäten durchgeführt, während die Ergebnisse, das ‚Zuchtmaterial‘ und die Inzuchtlinien an Unternehmen weitergegeben werden. „Unverblümt gesagt, macht der öffentliche Sektor die Drecksarbeit, und der private Sektor verdient das Geld; der öffentliche Sektor subventioniert quasi den privaten“, schreibt Kingsbury (13). Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Hybridzüchtung: „Mit den Hybriden begannen die Unternehmen mit öffentlichen Einrichtungen [...] zu konkurrieren. [...] Jegliche Inzuchtlinie, die diese produzierten, wurde von den Unternehmen weggeschnappt und genutzt [...]“14. Auch heute noch subventioniert der öffentliche Sektor die privaten Unternehmen, wie zum Beispiel an groß angelegten Projekten der Hybridweizenforschung zu sehen ist.
Spätestens, als in den 1980ern die Agrarchemiekonzerne in großem Stil in den Saatgutmarkt einstiegen, übernahm der private Sektor endgültig das Ruder. Die Dominanz privater Konzerne in der Pflanzenzüchtung brachte bald Forderungen nach dem Schutz des geistigen Eigentums auf Pflanzensorten mit sich: „Als die private Züchtung die öffentliche überholt hatte, wurde das Thema des Schutzes von Pflanzensorten wichtiger und zunehmend umstritten. Diese beiden Angelegenheiten sind so ineinander verflochten wie eine Kletterpflanze mit dem Baum, um den sie wächst“ (15).
Seit Jahrzehnten dominieren in den Industrieländern private Konzerne die Ausrichtung der Pflanzenzüchtung, während öffentliche Institute und Universitäten sich immer weiter zurückziehen. Für die Entwicklung von Alternativen fehlt häufig das Geld, wie beispielsweise für die Züchtung samenfester Sorten oder die Erforschung agrarökologischer Methoden. (16) […]
Primitive Sorten? Die Abwertung bäuerlicher Züchtung
„Lange vor Darwin und Mendel lag die Pflanzenzucht in den Händen kundiger, fähiger Menschen, die ihre Felder mit scharfem Blick für die besten Pflanzen abschritten, deren Samen sie für die Aussaat aufhoben“, schreiben Mooney & Fowler (17). So viel Achtung bekommen die bäuerlichen Züchter*innen selten! Ihr enormes Wissen über Anbau, Pflege, Selektion, Saatgewinnung und Zubereitung der Pflanzen, das sie über Generationen weitergeben, wird heute oftmals als rückschrittlich abgewertet.
Häufig wird Gärtner*innen und Bäuer*innen die Fähigeit des Züchtens gänzlich abgesprochen, etwa wenn der Beginn der Züchtung in das 19. Jahrhundert datiert wird. Eine Abwertung der bäuerlichen Züchtung geschieht auch, wenn bäuerliche Sorten seit der Entstehung der professionellen Züchtung als ‚primitive Sorten‘ bezeichnet werden, denen ‚Hochzuchtsorten‘ entgegenstehen. (18) Oder wenn bäuerliche Sorten als Gefahr für die Biosicherheit dargestellt werden.
Doch jegliche Züchtung greift letztlich auf Vorhandenes zurück. Noch heute verwendet die professionelle Pflanzenzüchtung einige grundlegende Methoden, die auch schon die Bäuer*innen vor Jahrtausenden kannten. Flitner (19) schreibt daher, „[e]s ist gerade in der Pflanzenzüchtung außerordentlich schwierig, ‚wissenschaftliches‘ und ‚unwissenschaftliches‘ oder ‚vorwissenschaftliches‘ Vorgehen gegeneinander abzugrenzen. In sehr vielen Kulturen gibt es traditionelle Auslese- und Pflanzverfahren, die hinter der ‚wissenschaftlichen‘ Pflanzenzüchtung nicht zurückstehen und diese jedenfalls in einem [...] ganz wesentlichen Aspekt, nämlich der Erhaltung und Mehrung biologischer Vielfalt, weit übertreffen“.
Die bäuerliche Pflanzenzüchtung hat sich seit Jahrtausenden bewährt; auch heute noch ernähren Nahrungsmittel aus bäuerlichem Saatgut einen Großteil der Weltbevölkerung. (20) Alle unsere heutigen Hauptnahrungspflanzen und eine Vielzahl von Faserpflanzen wurden auch schon von den Menschen in der Steinzeit genutzt. Obwohl die professionelle Züchtung erst seit etwas mehr als 100 Jahren besteht, wird oft behauptet, ohne diese könne die Welt heute und in Zukunft nicht ernährt werden.
Züchtung gehöre in die Hände von Expert*innen, und diese Expert*innen seien nicht die Bäuer*innen, so die Meinung vieler professioneller Züchter*innen ab 1900. Ein Ergebnis dieser Auffassung ist, dass die Züchtung vielfach über die Bedürfnisse derer hinweggeht, für die angeblich gezüchtet wird.
Fußnoten
(1) A. Banzhaf, 2016: Saatgut. Wer die Saat hat, hat das Sagen. München. S. 63-68. Dieses Buch ist erhältlich auf S. 89.
(2) M. Flitner, 1995: Sammler, Räuber und Gelehrte. Die politischen Interessen an pflanzengenetischen Ressourcen 1895-1995. Frankfurt a.M. S. 38.
(3) H. Becker, 2011: Pflanzenzüchtung. Stuttgart. S. 14.
(4) Heinrich-Böll-Stiftung et al. (Hrsg.), 2015: Bodenatlas. Daten und Fakten über Acker, Land und Erde. Würzburg. S. 20.
(5) V. Shiva, 1991: The violence of the Green Revolution. Third world agriculture, ecology and politics. London. S. 72.
(6) H. Becker, a. a. O. S. 76ff.
(7) H. Becker, a. a. O. S. 297.f
(8) H. Becker, a. a. O. S. 162.
(9) Als Zellkultur wird die Kultivierung pflanzlicher Zellen, Gewebe oder Pflanzenteilen in einem Nährmedium außerhalb des pflanzlichen Organismus (z.B. im Reagenzglas) bezeichnet.
(10) H. Becker, a. a. O. S. 207ff.
(11) M. Flitner, a. a. O. S. 152f.
(12) A. Heistinger, 2001: Die Saat der Bäuerinnen. Saatkunst und Kulturpflanzen in Südtirol. Innsbruck. S. 61f.
(13) N. Kingsbury, 2009: Hybrid. The history & science of plant breeding. Chicago, London. S. 376, Üs. AB.
(14) N. Kingsbury, a. a. O. S. 375, Üs. AB.
(15) N. Kingsbury, a. a. O. S. 381, Üs. AB.
(16) P. H. Howard, 2009: Visualizing consolidation in the global seed industry: 1996-2008. S. 1281. In: Sustainability 1/4: S. 1266-1287.
(17) P. Mooney, C. Fowler, 1991: Die Saat des Hungers. Wie wir die Grundlagen unserer Ernährung vernichten. Reinbek bei Hamburg. S. 150.
(18) M. Flitner, a. a. O. S. 144f, 294f.
(19) M. Flitner, a. a. O. S. 37.
(20) GRAIN, 2012: The great food robbery. How corporations control food, grab land and destroy the climate. Cape Town, Dakar, Nairobi, Oxford. S. 24.